Jetzt habe ich schon einiges aus dem Standardprogramm der nachhaltigen Mode gelesen, angefangen von „Das Kleiderschrank Projekt“ über „Einfach anziehend“ bis hin zu den verschiedensten Blogs – und fühle ich mich einfach nicht angesprochen. Das liest sich alles wie „Mit dem Kabinenkoffer zum Vorstandstreffen – und trotzdem rundum perfekt gekleidet“ oder so ähnlich, nur halt in grün….Nein, das ist jetzt übertrieben, vieles ist nett geschrieben und viele Outfits sind nett anzusehen, aber den modischen Pulsschlag der Zeit spüre ich nicht! Obwohl Nachhaltigkeit doch ein Thema am Puls der Zeit ist, sehr merkwürdig.
Kann es sein, dass wir modisch gesehen in einer Kastengesellschaft leben? Dass es die Kaste der Gutgekleideten und die der Fashionistas gibt? Außerdem noch eine Art Fashion Parias, die nur ihre Blöße bedecken, gerne mit praktischen Trainingsanzügen, modisch gesehen kann man diese Nachlässigen aber völlig vernachlässigen.
Also Gutgekleidete und Fashionistas: Es gibt es in jeder Preisklasse (geht mal in Italien auf einen Mercato und Ihr wisst, was ich meine) und in jeder Geschmacksrichtung, klassisch, romantisch, sportlich, modern. Es handelt sich nicht um ein Klassifizierungssystem verschiedener Kleidungsstile sondern um eine sehr viel tiefer verwurzelte Grundeinstellung, zwei konträre Archetypen, Kain und Abel, die sich in unserer toleranten Gesellschaft glücklicherweise nicht nach dem Leben trachten. (Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob man nicht auch heute noch in manchen Zirkeln den gesellschaftlichen Tod stirbt, wenn man falsch gekleidet ist.)
Gutgekleidete können durchaus modebewusst sein, aber sie adaptieren Mode nur konservativ im Rahmen eines bleibenden Stils. Primär geht es ihnen um Schönheit und Harmonie, in kommunikativer Hinsicht um Anerkennung und Wertschätzung – in der ganzen Bandbreite von reiner Anpassung (egal ob an Mainstream oder Subkultur) bis zu einem elitären Selbstverständnis, aber immer im Rahmen von Zugehörigkeit – und um Werte wie Qualität, Zeitlosigkeit, Charakter (im Sinne von unveränderlichen Wesenszügen). Natürlich ist es mehr als nur in Ordnung, wenn man zu den Gutgekleideten gehört und es ist schön, dass es so viel nachhaltigen Lesestoff für Gutgekleidete gibt – aber wo bleiben da die Fashionistas?
Fashionistas geht es um den Spannungsbogen zwischen Individuum und Zeitgeist und um den elektrisierenden Moment, wenn der Funke überspringt. Sie stellen etablierte Schönheit in Frage, im besten Falle nicht nur um zu provozieren, sondern um eine neue Sichtweise vorzuschlagen. Sie stellen sich gegen den Strom und genießen es dabei aufzufallen- muss gar nicht positiv sein, denn Anerkennung freut sie nur dann, wenn sie von den richtigen Leuten kommt! Ihre Werte sind Mut, Ausdruckskraft, Persönlichkeit – die sich im Laufe eines gelebten Lebens selbstverständlich verändern darf, entwickeln muss.
Modebewusste Gutgekleidete fragen sich, ob Culottes in sind, Fashionistas tragen sie, sofern sich das Holy-shit-Gefühl einstellt! Das erklärt vielleicht zumindest teilweise, warum Nachhaltigkeit zwar edgy aber kein zentrales Thema für Fashionistas ist: Zu wenig ästhetisch erspürbar, zu kopflastig. Einsichtige wünschen sich vermutlich einfach, dass Nachhaltigkeit eine Conditio sine qua non wird, damit sie ihre Auswahl wieder nach Fashionista Kriterien treffen können – aber von selbst kommt das nicht! Könnte es – für den Übergang – sowas wie eine nachhaltige Ästhetik geben, mit der Fashionistas ihr nachhaltiges Engagement ausdrücken? Spannende Frage.