Die Seele der Dinge

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – wer kennt sie nicht, die Zeile aus dem Gedicht Stufen von Hermann Hesse? Tatsächlich funktioniert er bei Kleidung immer, dieser Zauber des Neuen – und er ist so leicht zu haben! Man sieht ein Teil, ist begeistert, kauft es, zieht es über – schon funkelt man in neuem Glanz, die Stimmung steigt, die Augen leuchten, man bekommt positives Feedback…. Deshalb möchte man immer wieder neu erfahren, wie fasziniert und faszinierend man sein kann. Dieser Mechanismus treibt mein Kleiderkarussell an, nicht etwa eine Ich-habe-nichts-anzuziehen-Panik, wie manche Nachhaltigkeitsgurus (-gurösen?) unterstellen.

Eigentlich bräuchten Klamotten einen Warnhinweis: Vorsicht, erzeugt einen kurzfristigen Frischekick der süchtig machen kann! Denn leider welken so viele neue Sachen unglaublich schnell, der Zauber verblasst minütlich, schon ist man wieder fast die Alte, bloß schnell einkaufen gehen – nein, so krass ist es nicht mit meiner Modeneurose, aber neue Klamotten machen mich glücklicher als alte. Meistens jedenfalls, es gibt bekanntermaßen auch die Teile aus der Garderobe meines Lebens, die quicklebendig bleiben und mir immer noch ein gutes Gefühl geben, wenn ich sie trage.

Was macht ihn aus, diesen Zauber, und wie kann man ihn bannen? Wer die Antwort kennt, kann spielend Viviennes Maxime folgen: Choose better, make it last. Aber der Frage nach dem inhärenten Zauber mancher Dinge ist analytisch schwer beizukommen, denn er ist ja nicht quantifizierbar. Ich habe dazu 2 Arbeitshypothesen entwickelt und versuche experimentell herauszufinden, ob sie funktionieren. Aber es kann durchaus sein, dass ich letztlich wie Albrecht Dürer sagen muss „Was Schönheit sey, das weiß ich nicht“.

  1. Kunstfertigkeit: Könnte vielleicht künstlerische Qualität und/oder handwerklicher Aufwand die Dinge kostbarer machen, ihren Magnetismus verstärken, sie zusätzlich mit Vitalität aufladen?
  2. Der goldene Schnitt: Niemand kann ihn genau erklären, aber er funktioniert schon seit über 2500 Jahren, versucht man ihn zu errechnen, so erhält man eine irrationale Zahl, trotzdem wird das Ergebnis des „richtigen“ Verhältnisses der Dinge zu einander heute noch als genauso stimmig wahrgenommen wie damals. Der goldene Schnitt ist das bekannteste Beispiel dafür, dass wir eine irrationale Gewissheit darüber kennen, wann etwas perfekt ist, auf den Punkt gebracht, auch so eine unberechenbare aber konsensfähige Verortung. Funktioniert diese Stimmigkeit möglicherweise als Zauberkonservierungsmittel? Der geniale Wurf oder die perfekte Zusammenstellung, die richtige Balance von Authentizität und Zeitgeist, Material und Schnitt, Aussage und Tragbarkeit, Kostbarkeit und Trivialität, es und ich und der große Coup im Auge des Betrachters?

Könnte man mit diesen Mitteln vielleicht sogar ausgelutschte Schrankschatten reanimieren? Neu in Form bringen wie Tante Hildegard ihren gewendeten Herrenmantel, mit verrückten Krägen, Manschetten, Taschen, Gürteln pimpen, wie Vivienne Westwood ihre Punk Classics, dekonstruieren, neu zusammensetzen…auf den Zeit – Punkt bringen, mit neuem Wert aufladen, bis zur Wiederverzauberung. Klingt nach einer zielführenden Strategie: Wenn wir unsere Kleider öfter tragen statt neu zu kaufen bringt das schnell eine spürbare Entlastung unseres geplagten Planeten und wenn sie sich dabei anfühlen wie neu – das wäre ja fast schon die Erfindung des Perpetuum mobile.

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