und die Antithese zur bürgerlichen Mode
1968 fand ich auf dem Speicher einen Koffer voller Kleidung aus den Kriegsjahren. Die Sachen hatten meiner Tante Hildegard gehört, erzählte mir meine Mutter unter Tränen. Hildegard war neunzehn als sie in den letzten Kriegstagen starb, acht Wochen, bevor die Amerikaner kamen und mit ihnen das Penecillin, das meine Tante hätte retten können. Ich war 1968 siebzehn und ich war vom Inhalt dieses Koffers begeistert. Damals lasen wir allen Marx, Engels und Wilhelm Reich, liefen barfuß, diskutierten Antithesen zur bürgerlichen Kultur – und in diesem Koffer war die Antithese zur bürgerlichen Mode in Reinkultur! In den folgenden Monaten habe ich nichts anderes getragen als die Kleider meiner Tante Hildegard, und ich war der Star der Szene. Glücklicherweise hatten wir uns damals alle auf Twiggymaße runtergehungert*, sonst hätten mir die Sachen nicht gepasst, denn in den Kriegsjahren war man in Deutschland sehr mager.
Meine Mutter war entsetzt, sie konnte nicht verstehen was mich an diesen „armseligen“ Kleidern so anzog und vermutete vielleicht, dass es wieder eine Art war, sich über ihre Lebensweise lustig zu machen. Tatsächlich waren diese Kleider alles andere als armselig, sie waren reich an allem, was das Beste in der Mode ist, voll Kultur, voll Würde, voll Lebensfreude, trotz allem. Es waren die Kleider eines Mädchens, das sich nicht unterkriegen ließ, ich habe es damals nicht verstanden, aber gefühlt, dass sie kostbar waren. Heute freue ich mich für meine Tante, dass sie offenbar ihr kurzes Leben gelebt hat, wenn ich an ihren Nachlass zurückdenke.
Ich erinnere mich vor allem an einem Mantel der aus einem alten Herrenmantel gemacht war, er war aus edlem italienischem Tuch, die Familie hatte bis vor dem Krieg in Ligurien gelebt. Vielleicht weil er schon abgetragen war, vielleicht um ihn weiblicher zu machen, hatte Hildegard den Mantel gewendet, so dass jetzt das ehemalige Futter außen war. Ein sehr feines beiges Wollstöffchen mit einem großen braunen Fadenkaro, wunderschön. Dazu hatte meine Tante einen braunen Samtkragen und passende Taschenpatten angenäht, der Stoff stammte vermutlich auch aus irgendeiner Wiederverwertung, und mit demselben Samt bezogene Knöpfe, sie hatte den Mantel tailliert und eine angeknöpfte Samtspanne im Rücken gab dem Modell den letzten Clou. Schade, dass es keine Fotos davon gibt. Wenn ich ihn noch hätte (und noch reinpassen würde), würde ich ihn im Herbst tragen!
Mir ist Tante Hildegards Koffer wieder eingefallen, als ich jetzt über die gepatchten Sachen auf der Seek nachgedacht habe. So könnte eine nachhaltige Ästhetik aussehen: Gebrauchte Dinge aus guten Materialien wertschätzend und mit viel Können und Aufwand wieder lebendig gemacht!
*Für alle, die das nicht miterleben durften: Twiggy war das Model der Londoner Swinging Sixties und, wie der Name „Zweiglein“ vermuten lässt, extrem dünn.